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Weihnachten in Zeiten von SARS-CoV-2

Wisst ihr, was mich noch tausendmal mehr nervt als der Lockdown, die Tatsache, dass mein Lieblingscafé mal wieder nur Take-Away anbieten darf und die Waghalsigkeit, seit Wochen meinen gedrehten Ura Mawashi Geri hier im Wohnzimmer zwischen meinem Kater und einem Aquarium beim Zoom-Training vor dem Laptop üben zu müssen?

Das allgemeine, wohlstandsverwahrloste Gejammer.

Und ich rede hier noch nichtmal von komplett entblödeten und aus purer Langeweile herbeifantasierten Coronadiktatur- oder Zwangsimpfszenarien oder von dem haltlosen Gewimmer, das manche Leute wegen eines Mundnasenschutzes im Stande sind von sich zu geben.

Der November-Lockdown geht auf die Zielgerade, das letzte Kalenderblatt wird bald umgeblättert und alle fragen sich mit gekräuselter Stirn und zitternder Unterlippe, wie das denn nun werden soll mit Corona, dem Weihnachtsfest und dem traditionellen Silvesterbesäufnis- und -geböller.

Manche Stimmen sprachen gar von dem „härtesten Weihnachten“, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben.

Ja, ich weiß. Wir sind alle von 2020 angekotzt. Wir haben alle so langsam die Nerven blank und wegen irgendwas, das in dem letzten Dreivierteljahr passiert ist, die Faust in der Tasche. Wegen einiger Dinge sicherlich auch zu Recht.

Aber wenn mir dieses Jahr eines gezeigt hat, dann doch, dass von meinem schönen Leben noch verdammt viel Schönes übrig bleibt – selbst, wenn ich mal eine ganze Menge Schönes weglassen muss.

Die meisten von uns sind so verdammt privilegiert.
Wir haben soviel. Und wir merken es nicht einmal.

Denn die meisten, die das hier lesen, werden einen vollen Kühlschrank haben. Ein festes Dach über dem Kopf und eine Heizung, die warm wird, wenn man sie andreht. Wahrscheinlich ist da mindestens ein lieber Menschen, der*die ab und zu mal einen Arm um die Schulter legt oder mal fragt „Wie geht es dir?“. Wir haben sauberes Wasser und eine heiße Dusche nach einem langen Tag. Wir haben Musik, Bücher, Netflix, die Playstation und Bananenbrot. Es gibt vor unserer Tür eine friedliche Welt, in der wir nicht um Leib und Leben fürchten müssen. Wir haben eine weltweite Pandemiesituation mit vielen, vielen Toten und Kranken und trotzdem haben die meisten hier von uns das Glück, noch immer alle Lieben bei sich zu wissen. Wir haben blinkende Lichterketten, selbstgebackene Plätzchen und zur Not eine*n unterbezahlte*n Paketbot*in, der*die uns das Geschenkegeraffel von aus der Logistikhölle von Amazon direkt vor die Haustür schleppt.

Wir haben all das. Aber wir haben kein hartes Weihnachtsfest. Vielleicht ein bisschen, wenn irgendein Dulli dieses schreckliche Lied von Mariah Carey anmacht. Aber nicht wirklich.

Wir sind bisher hier – auch dank der allgemeinen Besonnenheit und Rücksicht (zwei Werte, die ich sehr schätze) – verdammt gut durch diese ganze Corona- Scheiße durchgekommen. Und an dieser Stelle stellt sich nicht die Frage, ob hier jemand „an Corona glaubt“ oder nicht. In Science I Trust. Glauben kann man in der Zwischenzeit prima in der Kirche. Und sollte das auch nur dort tun. Die haben ja auch noch auf, diese Kirchen.

Und ja, ich weiß, dass diese Pandemie-Situation für viele Menschen hart ist. Dass viele von Einsamkeit betroffen sind und der Lockdown ihnen psychisch enorme Kräfte abringt und Ängste auslöst. Aber das sind Dinge, die sich nicht erst durch die Pandemiesituation heimlich von der Decke abgeseilt haben. Dass es in unserer Gesellschaft ein Problem mit Einsamkeit und Existenzangst gibt, war schon bekannt, bevor wir uns kollektiv vor SARS-CoV-2 verstecken mussten. Dass es Menschen gibt, die an Depressionen und Suizidgedanken leiden ist eine Tatsache, die nicht erst seit März 2020 besteht.

No shit, Sherlock: Den meisten Menschen, denen es seit Beginn der Pandemie so scheiße geht, ging es auch meist vorher schon nicht sonderlich blendend. Ihre Situation jetzt plötzlich mit anklagender Stimme hervorzuheben um damit ein weiteres Argument auf der Anti-Corona-Maßnahmen-Agenda zu haben, finde ich by the Way ziemlich schäbig.

Wenn uns angesichts dieser Lage auch oft – völlig zu Recht – nach Jammern zumute ist, sollte doch jedem klar sein, dass dies auf einem verdammt hohen Niveau geschieht. Unser Leben in permanenten Selbstverständlichkeiten ist eine verdammt fragile Kiste. Wie fragil das alles ist, hat uns dieses Jahr gezeigt.

Und vielleicht sollten wir die allseits hochgejagte „Besinnlichkeit“ die wir ja alle angeblich während der Weihnachtstage immer erleben, mal dazu nutzen, uns dessen auch bewusst zu werden.

Ich wünsche euch einen gesegneten Black Friday.


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Give credit where credit is due: Das hammerschöne Streetart-Paste-Up in meinem Beitragsbild stammt übrigens von Hallo Karlo.