Urlaubsbücher 2024
Das Schöne an einer beruflichen Auszeit auf Kreta ist für mich ja nicht nur das gute Essen und das stinkfaule Herumlungern am Strand, sondern auch dass ich es schaffe, problemlos mehrere Stunden am Stück zu lesen und Bücher einzuatmen.
Ich war recht optimistisch, und hatte mir 6 Bücher für meine zweiwöchige Reise nach Griechenland eingepackt. Ein zusätzliches Buch von meiner Wunschliste habe ich dann sogar noch in der kleinen Tausch-Box bei uns im Hotel gefunden. Und dann war es auch nur der knallhart-realistischen Selbsteinschätzung meiner griechischen Sprachkenntnisse geschuldet, dass ich mir eben nicht noch einen griechischsprachigen Roman in dieser kleinen, süßen Buchhandlung in Rethymno gekauft habe.
An Lesestoff mangelte es also nicht und da wir insgesamt 4 richtig heiße Tage um die 40 Grad hatten, in denen mein Gehirn eher gelförmige Konsistenz angenommen hatte und an Lesen kaum zu denken war, habe ich „nur“ 5 Bücher geschafft.
Eigentlich kann ich euch alle empfehlen – bis auf eines, das ich unglaublich enttäuschend und lahm fand.
Welches das ist? Lest selbst.
Aber hier in der Reihenfolge, in der ich die Bücher gelesen habe:
„Liebe ist gewaltig“ – Claudia Schumacher
Obwohl „Liebe ist gewaltig“ thematisch alles andere als eine lockere Lektüre für einen entspannten Strandtag ist, wusste ich, dass ich mich dieser Geschichte in aller Ruhe im Urlaub widmen wollte.
Als Kind einer angesehenen Anwaltsfamilie wächst Juli scheinbar in besten Verhältnissen auf. Doch hinter der glänzenden Vorstadtfassade herrscht Gewalt in jeder Form – körperlich, verbal und psychisch. Der Alltag von Juli und ihren drei Geschwistern ist geprägt von permanenter innerer Anspannung. Von Schlägen, Machtspielen, Leistungsdruck, Manipulation und schmerzhaftem Schweigen. Liebe und Gewalt gehen fast immer willkürlich und nahtlos ineinander über.
„Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus dem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familien, die lässt dich nicht los. Jeder hat gegen jeden was in der Hand. Verstrickungen, Erstickungen: Es ist wie Mafia.“
In diesem Chaos versucht Juli, Räume und Strukturen für sich selbst zu schaffen und eine Beziehung zu sich und ihren Bedürfnissen zu entwickeln. Sie kämpft und rebelliert – doch das Thema Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben.
Claudia Schumacher erzählt Julis Geschichte laut und bildgewaltig, weit entfernt von theatralischer Betroffenheitsliteratur. Die Geschichte funktioniert ohne Pathos, sogar mit viel schwarzem Humor, ist an manchen Stellen herrlich frech und zynisch. Einfühlsam und mit viel „show, don’t tell“ skizziert Schumacher, wie vielfältig Gewalt sein kann und welchen Schaden sie anrichtet. Familiäre bzw. häusliche Gewalt wird hier nicht klischeehaft im „Unterschichtmilieu“ verortet, sondern im gut situierten Bildungsbürgertum. Der Roman ist perfekt in Rhythmus und Tempo, spannend, überraschend und immer wieder schmerzhaft direkt ins Gesicht.
Wer gerne Geschichten liest, die im Kopf Fenster öffnen, die nachhallen und ein Knacken und Knistern im Kopf hinterlassen, sollte dieses Buch lesen.
„Tigermilch“ – Stephanie de Velasco
Ich liebe Coming-of-Age-Romane – diese Geschichten über die Zeit im Leben, in der alles möglich scheint, die guten Dinge wie die schlechten. Und „Tigermilch“ feuert all diese guten und schlechten Dinge im Stakkato ab.
Nini und Jameelah sind beste Freundinnen. Im schroffen Großstadtleben Berlins vertreiben sich die beiden Teenagerinnen zwischen Plattenbautristesse und Familienkonflikten die Zeit. Jugendliche Leichtigkeit trifft auf die Härte des Lebens und so ist „Tigermilch“ nicht nur eine Geschichte über das Erwachsenwerden sondern auch ein Drama, ein Krimi und eine Gesellschaftskritik. Stephanie de Velasco erzählt mit so viel schnörkellosem Gefühl und Wortgewandtheit – das Lesen ist wirklich eine Freude.
Und ich hoffe, ich spoilere nicht, wenn ich sage: Ich liebe das Ende der Geschichte. Weil es kratzt, weil es unbequem ist, weil es kein umflauschendes Wohlfühl-Happy-End ist – sondern echt und authentisch.
Ich bin vielleicht ein bisschen late to the Party, aber Stephanie de Velasco hat das Zeug zu einer „Ich lese alles was sie schreibt“-Autorin für mich zu werden. Ihre anderen Romane stehen nämlich bereits auf meiner Wunsch-Liste.
„Leonard und Paul“ – Rónán Hession
Eine warmherzige Wohlfühlgeschichte. Ein echtes Feel-Good-Buch. Liebenswerte Charaktere. Perfekt zum Entspannen und Abschalten. Ein besonderes Buch für die Seele. Der schönste Debütroman seit langem.
So oder so ähnlich lauteten die Formulierungen in den vielen Rezensionen, die „Leonard und Paul“ als großen Geheimtipp über den grünen Klee lobten.
Und ich mache es kurz und bin ganz ehrlich: Ich kann mich dem so gar nicht anschließen und habe selten den Hype um ein Buch so wenig verstanden.
Denn was war das denn bitte für ein belangloser Roman? Zwei verschrobene Nerd-Muttersöhnchen, die sich mit Mitte 30 noch das Essen zu Hause von Mama kleinschneiden lassen. Eine komplett vorhersehbare und klischeebeladene Lovestory mit einer alleinerziehenden Mutter, in der es natürlich auch darum geht, das Herz eines ganz besonderen Kindes zu erobern. Absurde Nebenhandlungen und lebensfremde Dialoge voller nichtssagender Details. Und eine Geschichte, die es schafft auf bummelig 300 Seiten komplett ohne Spannungsbogen auszukommen. Ich hatte die leise Hoffnung, dass wenigstens am Ende auf der Hochzeit noch irgendein knalliger Plot-Twist auf mich wartet. Vergeblich. Da kam auch nur Kitsch.
Wer auf rundgelutschte Kalendersprüche und auf die Bücher von John Strelecky steht, sollte zugreifen. Ansonsten doch lieber Finger weg davon.
„Seemann vom Siebener“ – Arno Frank:
Chlorgeruch. Pommes rot-weiß. Das klebrige Gefühl von Sonnencreme auf der Haut. Ab und zu das Platschen einer brachialen Arschbombe vom Sprungturm. Die besondere Magie, die von einem Tag im Freibad ausgeht, ist mit wenigen Worten umrissen.
Arno Frank hat in seinem Roman „Seemann vom Siebener“ dieser Magie noch ein Geflecht aus schrulligen Figuren hinzugefügt, die an einem warmen Sommertag in einem kleinstädtischen Freibad aufeinandertreffen: Lenny, der Fotograf. Renate, die Kassiererin. Kiontke, der Bademeister. Isobel, die ehemalige und mittlerweile etwas tüddelige Lateinlehrerin. Schicht um Schicht werden die Geschichten dieser Menschen und ihre Verbindungen zueinander freigelegt – inklusive einem raffinierten Plot-Twist à la Shyamalan, der dazu führt, dass man das Buch (oder zumindest einige Passagen) zum Schluss am liebsten gleich nochmal von vorne lesen möchte.
Mit knapp 230 Seiten ist „Seemann vom Siebener“ ein richtig schöner Sommer-Lese-Snack mit Anspruch und Tiefgang. Definitiv eine Urlaubsbuch-Empfehlung!
„Die Möglichkeit von Glück“ – Anne Rabe
Stine ist in der DDR geboren und ist im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Ihre Familie ist geprägt von vielen historischen Wirrungen: Von der Nazizeit, vom SED-und Stasi-Regime und von den vielen ideologischen Prägungen zwischen Demokratie und Diktatur. Das Schweigen zieht sich durch die Generationen, ihre Mutter erzieht sie und ihren Bruder Tim mit Härte und Strenge. Stine beschließt, das Schweigen zu brechen. Sie widmet sich der Vergangenheitsbewältigung, grenzt sich von ihrer Mutter ab und beginnt, die Lücken und Leerstellen in ihrer Familiengeschichte zu füllen.
„Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. (…) Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man an Zuhause denkt. Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.“
Ich finde das Thema des Romans enorm bewegend, denn das heutige Deutschland ist bei genauerem Hinsehen ein Land, das seit über 100 Jahren von transgenerationalen Traumata durchzogen ist: Krieg, Diktatur, Teilung, Revolution, Entwurzelung, Flucht und Vertreibung. Fast jede Familie in diesem Land ist mehr oder weniger von den Auswirkungen dieser Ereignisse betroffen, in nahezu jeder Familie gab es seelische Wunden, die im Gegensatz zu den körperlichen Spuren nicht sichtbar waren und die stumm erduldet wurden. Opa erzählt wieder vom Krieg? Nein, denn über den Krieg wurde nie gesprochen, genauso wenig, wie über die vielen anderen Dinge, die ihre Spuren in den Köpfen und Herzen der Menschen hinterlassen hatten und sich noch Jahre später in schwarzer Pädagogik, Alkoholismus und/oder Gewalt entluden.
Leider plätscherte mir die Geschichte an einigen Stellen aber zu sehr vor sich hin. Immer wieder springt die Erzählung fahrig von einer Anekdote zur nächsten, was es mir erschwert hat, wirklich in die Story einzutauchen. Trotzdem ist „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe ein persönlicher, politischer und gesellschaftskritischer Roman, den ich sehr mochte und dessen Thema lange nachhallt.
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