"Und alle so still" von Mareike Fallwickl

Buchrezension: Und alle so still von Mareike Fallwickl

Proteste sind laut. Sie bestehen meist aus vielen wütenden Menschen, die brüllen, trommeln, in Trillerpfeifen pusten oder zumindest Demo-Schilder mit mehr oder weniger gut formulierten Forderungen in die Höhe halten. Manchmal wird gesungen, Redebeiträge werden mit kräftiger Stimme vorgetragen. Mareike Fallwickls neuer Roman handelt von einem Protest. Doch dieser ist das genaue Gegenteil: Still.

„Was sollen Sie uns tun, was sie uns nicht längst getan haben?“

Frauen liegen auf der Straße. Einfach so. Sie weigern sich, weiterhin das zu tun, was sie immer getan haben. Sie waschen keine Wäsche mehr, sie putzen keine Toiletten, sie wickeln keine Babys, sie schreiben keine Einkaufslisten. Sie nähen keine Knöpfe mehr an und räumen nicht mehr auf. Sie pflegen keine Angehörigen mehr und packen keine Lunchboxen. Diese alltäglichen Sorgearbeiten, die in unserer Gesellschaft fast ausschließlich von Frauen wie selbstverständlich und meist unbezahlt erledigt wurden, bleiben nun genauso liegen wie die Frauen selber. Zu Hunderten. Zu Tausenden. Immer mehr Frauen schließen sich den Protesten an und schon bald werden die Streikenden nicht nur von wütenden Männern attackiert, auch der Staat ergreift harte Maßnahmen, um den vermeintlichen Normalzustand wiederherzustellen. Doch die Frauen halten dagegen. Sie kümmern sich umeinander, legen alle Rivalitäten ab und begegnen sich in bedingungsloser Solidarität.

Frauen, die sich miteinander solidarisieren und in den Generalstreik treten – diese Idee hat Mareike Fallwickl bereits in ihrem letzten Roman „Die Wut die bleibt“ angedeutet und nun in „Und alle so still“ weiterentwickelt. Entstanden ist eine Geschichte, die Utopie und Dystopie zugleich ist, die strukturelle Probleme aufzeigt, die von Herzen provozieren will – und es auch tut.

Wie es Fallwickl-Leser*innen gewohnt sind, wird auch „Und alle so still“ kapitelweise aus wechselnden Perspektiven erzählt. Die drei Figuren sind (ebenfalls wie von Fallwickl gewohnt) dreidimensional, greifbar und äußerst ausgefeilt. Aber leider auch sehr klischeebeladen.

„Es gibt dafür keine Worte“, erwidert Elin ebenso leise, „die müssen wir erst erfinden.“

Da ist zum einen Elin, eine 21-jährige Instagram-Influencerin, die den Content für ihre 1,2 Millionen Follower am liebsten im Luxus-Wellnesshotel ihrer Mutter produziert. Trotz ihres oberflächlich schönen Lebens ist Elin sehr einsam und leidet unter den vielen Hasskommentaren, die sie trotz (oder gerade wegen?) ihres „normschönen Körpers“ täglich erhält. Das Verhältnis zu ihrer Mutter Alma ist schwierig. Da Alma in ihrer Jugend miterleben musste, wie ihre eigene Mutter Iris ihr Medizinstudium über den Haufen warf, um sich beruflich und persönlich in den Schatten der Arztkarriere ihres Mannes zu stellen, ist sie zu einer Feministin alter Schule mit bunten Achselhaaren geworden, die ihre Unabhängigkeit als zähe Einzelkämpferin lebt.

Zum anderen Nuri, ein junger Mann mit Migrationshintergrund, der mit klassischen und reaktionären Männlichkeitsvorstellungen kämpft und sich mit prekären Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht über Wasser hält. Manchmal fährt er Essen aus, arbeitet in Nachtclubs oder putzt Toiletten. Nuri hat kein richtiges Zuhause, das Verhältnis zu seinen Eltern ist schwierig, er ist entwurzelt und verunsichert.

Die dritte Erzählperspektive gehört Ruth. Sie ist Mitte 50, die Tante von Elin und arbeitet als medizinische Pflegefachkraft. Die Trauer um ihren inzwischen verstorbenen behinderten Sohn und der Personalmangel im Krankenhaus treiben sie Tag für Tag über ihre emotionalen und physischen Belastungsgrenzen hinaus. Ruth kümmert sich, sie macht und tut, immer für andere, nie für sich selbst – bis es eines Tages einfach nicht mehr geht.

Alle drei Hauptfiguren sind auf ihre ganz individuelle Weise Opfer patriarchaler Hegemonien. Kurze Zwischenkapitel sind aus der Perspektive von Gegenständen oder Körperteilen geschrieben (und ich bin mir ziemlich sicher, dass Mareike Fallwickl sich diese Idee ein wenig von „Wir sind das Licht“ abgeschaut hat – ein großartiger Roman von Gerda Blees, den ich dank ihrer Buchempfehlung auf Instagram entdeckt habe und an dieser Stelle sehr empfehlen möchte).

Und wer Mareike Fallwickl auf einem ihrer Social-Media-Kanäle folgt, kennt ihre Standpunkte, ihr Engagement, ihr Herzblut, ihren kämpferischen Geist und ihre Anliegen. Ich liebe ihre Texte, ihre wohlformulierten Statements, ihre kleinen Geschichten aus dem Alltag, die so aufrütteln und Mut machen. Mareike Fallwickl will Schluss machen mit dem alten Glaubenssatz, dass Frauen sich mit „Zickigkeit“ und „Stutenbissigkeit“ begegnen müssen, sie plädiert für, sie plädiert für weibliche Solidarität, für Schwesternschaft, für Inklusion und Zusammenhalt und dafür feiere ich sie sehr. Sie ist eine tolle und belesene Frau, ihre Buchtipps sind immer fantastisch und ihre Romane „Dunkelgrün, fast schwarz“ und „Das Licht ist hier viel heller“ gehören für mich zu den besten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.

Und genau deshalb ist „Und alle so still“ ein Roman, den ich so gerne mehr gemocht hätte.

Aber er leidet am gleichen Symptom, wie so einige andere Romane, die ich in letzter Zeit gelesen habe: Er will einfach zu viel. Er strickt eine Romanhandlung um alle Debattenthemen unserer Zeit, und vor lauter Gesellschaftskritik und Innenschau rückt die Erzählung in einen kaum noch erkennbaren Hintergrund. Fallwickl erklärt und belehrt, dabei könnte die Handlung für sich stehen. Schließlich steckt in den am Boden liegenden Frauen schon so viel Bildgewalt, dass ich mir gewünscht hätte, sie hätte hier viel mehr Interpretationsspielraum gelassen. Aber der Text verliert sich zu oft in Schlagwortfeuerwerk und Pathos, es bleiben lose Enden und offene Fragen. Spannende Konflikte lösen sich dagegen durch plötzliche Sinneswandel der Figuren schnell und unkompliziert auf. Rassismus, Sexismus, Klassismus, Pflegenotstand, Generationenkonflikt, Klimakollaps, Ableismus, Queerfeindlichkeit – dieser geballte, wütende Rundumschlag durch die Gesamtscheiße unserer heutigen Zeit wirkt leider im Rahmen einer Romanhandlung leider sehr konstruiert und erweckt den Eindruck einer abgearbeiteten Themen-Checkliste.

Dennoch ist „Und alle so still“ ein wichtiges Buch mit einer großen Botschaft und einem spannenden Gedankenspiel, das deutlich macht, dass es so oft die Frauen sind, die unsere Gesellschaft und den Alltag der Welt am Laufen halten. Und wenn man bedenkt, dass die Kernidee des Romans schon so kurze Zeit nach Erscheinen des Buches zu einem großen Diskussionsthema geworden ist, kann man nicht leugnen, dass Mareike Fallwickl mit ihrer neuen Veröffentlichung einen mächtigen Nagel in ein ziemlich dickes Brett geschlagen hat. Die Schilderungen von Ruths Krankenhaus- und Pflegealltag sind sensationell gut recherchiert und lektoriert. Man merkt, wie viel Arbeit und Liebe zum Detail Fallwickl in diesen Roman gesteckt hat und wie wichtig es ihr ist, ihre Botschaft in Form dieser Geschichte in die Welt zu tragen. Und auch deshalb gönne ich ihr jede 5-Sterne-Rezension, jeden Platz auf der Bestsellerliste, jede ausverkaufte Lesung, jeden Erfolg mit diesem Roman von ganzem Herzen.

Aber „Dunkelgrün, fast schwarz“ bleibt mein Fallwickl-Lieblingsroman.

Wir sind keine Opfer, will Elin sagen, wir waren es nie, sie haben uns dazu gemacht, sie haben uns so definiert. Wir sind nicht ohnmächtig und machtlos auch nicht, in Wahrheit haben wir eine Stärke, die alles übersteigt, in Wahrheit sind wir belastbar und mutig und klug und leicht, wir sind unendlich alt und immer wieder neu.

Vielen Dank an Vorablesen und den Rowolth Verlag für das Rezensionsexemplar!


Disclaimer:

Die Links in diesem Beitrag führen zum Webshop meiner Lieblingsbuchhandlung Cohen & Dobernigg. Ich bekomme von niemandem Geld für diese Verlinkung. Ich verlinke sie einzig und allein, weil ich die dahinterstehenden Menschen bzw. ihre Arbeit sehr schätze und gern weiterempfehle und unterstütze.
Außerdem enthält dieser Beitrag einen Link zu VORABLESEN (einem Angebot der Ullstein Buchverlage GmbH) und dem Rowolth Verlag, die mir das Buch als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben.