Trockenperioden – Über Trinkimpulse und Rückschläge
Craving. Suchtdruck. Trinkimpulse. Ein gemeines Kind mit vielen Namen. Aber wie Kinder so sind, braucht auch dieses Kind Aufmerksamkeit. Wer mit dem Trinken aufhört, muss sich um dieses Scheißblag kümmern, sonst wird es irgendwann zu einem schwer erziehbaren Bully, der nicht mehr zu bändigen ist und einem die schönen Dinge des Lebens kaputt macht. Man kann es nicht einfach ignorieren, in sein Zimmer sperren oder ständig zum Spielen in den Garten jagen. Man muss ihm in die Augen schauen und sich mit ihm auseinandersetzen.
Als ich noch regelmäßig Alkohol getrunken habe, habe ich mich immer wieder mit meinen Trinkimpulsen beschäftigt. In welchen Situationen habe ich das Bedürfnis, Alkohol zu trinken? Welche Situationen bewältige ich leichter, wenn ich betrunken bin? Was lässt mich sagen: „Scheiß drauf, eins kannst du trinken“?
Diese Phase der Alkoholentwöhnung erforderte viel Kraft und Ehrlichkeit. Ich war noch nie in meinem Leben so ehrlich zu mir selbst wie in der Zeit, in der ich mein Trinkverhalten beobachtet habe. Ich habe hier ausführlich darüber geschrieben. Wer diesen Punkt erreicht, ist schon viel weiter als die meisten trinkenden Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrem Alkoholkonsum je kommen werden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon längere Abstände zwischen meinen Trinktagen. Manchmal lagen schon mehrere Wochen dazwischen, in denen ich mit klarem Kopf durchs Leben ging. Es ging mir gut, ich fühlte mich wohl, mein psychischer Zustand war stabil wie nie zuvor. Ich zählte die Tage und war stolz.
Aber dann kam wieder diese Sehnsucht, dieses Scheißegal-jetzt-Gefühl, dieses Bedürfnis, meine Gedanken in Alkohol zu tauchen, um ihre harten, splitternden Kanten abzuschleifen. Und ich trank wieder. Es wurde von Mal zu Mal weniger. Aber ja, ich trank. Und der Zähler stand wieder auf Null.
Ich möchte jeder/jedem, die/der gerade auf dem Weg ist, sich mit seinem Trinkverhalten auseinanderzusetzen eine Botschaft geben:
Das Verlangen wird kommen, vielleicht wirst du ihm wieder nachgeben, vielleicht wirst du wieder trinken, und dann musst du den schönen Zähler der alkoholfreien Tage wieder auf Null stellen. Aber das macht den Weg, den du bereits gegangen bist, nicht wertlos. Es macht die großartige Arbeit, die du bereits an dir selbst geleistet hast, nicht ungeschehen. Du fängst nicht wieder bei Null an!
Aus diesem Grund sehe ich das Festhalten an dieser Anzahl der alkoholfreien Tage skeptisch, denn es ist ein System, das keine Rückschläge verzeiht. Sicherlich kann es motivierend sein. Aber es kann auch schnell dazu führen, dass man nach einem Rückschlag das Gefühl hat, es war alles umsonst. Man hat es nicht geschafft, man hat versagt.
Alkohol ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Meist reicht es, den Arm auszustrecken oder einmal vielsagend mit dem Kopf zu nicken, und schon hat man ihn in der Hand. Die Versuchung ist riesengroß, die Gewohnheiten über Jahrzehnte eingeschliffen. Und das Leben ist hart. Jeden Tag stehen wir vor herausfordernden Situationen, sind müde, gestresst, genervt. Die Trinkimpulse werden kommen. In Form eines abendlichen Schlummertrunks. In Form eines Weins zum Essen. In Form eines handlichen Flachmanns an der Supermarktkasse (letzteres ist übrigens beispielhaft dafür, wie sehr unsere Gesellschaft alkoholkranke Menschen verachtet, aber dazu schreibe ich an anderer Stelle vielleicht noch mal etwas).
Der häufigste Rat, den man für den Moment des Trinkimpulses bekommt, ist: Ablenkung. Ich fand es aber viel hilfreicher, in den Momenten, in denen die Trinkimpulse kamen, in mich zu gehen. Denn in einer Welt, in der Alkohol ständig verfügbar ist, kann man sich nicht ständig von ihm ablenken. Man muss lernen, sich dem Alkohol auszusetzen. Ich nutzte diese Momente, um für mich zu analysieren, was ich WIRKLICH brauchte. Ich merkte schnell, dass ich diese Situationen ohne Alkohol lösen musste – und konnte. Die bewusste Auseinandersetzung mit meinen Bedürfnissen hat mir schon 2005 sehr geholfen, als ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Das funktionierte für mich auch beim Alkohol. Ich musste es nur anwenden.
Aber die Rückschläge kamen. Anfangs gab ich den Trinkimpulsen auch manchmal nach. Und das war okay. Das hieß nicht, dass ich auf dem Weg zum alkoholfreien Leben gescheitert war oder dass ich das Leben ohne Alkohol nicht genug wollte. Ich wollte es so sehr, wie ich vor vielen Jahren das Leben ohne Zigaretten wollte. Ich wollte es mit meinem ganzen Herzen. Nie wieder Betäubung. Nie wieder Kater. Nie wieder alkoholgeschwängerter Streit. Nur noch klarer Kopf.
Heilung und der Weg aus dem Alkohol sind nicht linear. Sie können es auch nicht sein. Ich habe 30 Jahre Alkohol getrunken. Es ist ein langer Weg, all den Mist, den man in diesen Jahren über Alkohol „gelernt“ hat, zu entzaubern. Auf diesem langen Weg muss man sich auch sehr oft selbst vergeben. Das gehört dazu. Geduldig und nachsichtig mit mir selbst zu sein, meine Rückschläge als Lernmaterial zu nutzen und stärker als zuvor weiterzumachen, waren für mich wichtige Fähigkeiten in dieser Zeit.
Ich habe schnell gemerkt, dass es für mich nicht so sehr motivierend ist, zu sehen, wie viele Tage ich hintereinander ohne Alkohol geschafft habe. Für mich war es viel motivierender zu sehen, dass die alkoholfreien Intervalle von Mal zu Mal länger wurden. Dass ich immer besser darin wurde, den Trinkimpulsen zu widerstehen. Und ich merkte, dass die Impulse selbst weniger und schwächer wurden. Weil ich nicht nur aus jedem Rückschlag, aus jedem erneuten Trinken wieder gelernt habe, sondern auch aus meinen alkoholfreien Intervallen eine Botschaft mitgenommen habe: Ohne Alkohol geht es mir besser. Viel besser.
Bis ich im Juni 2023 mein allerletztes alkoholhaltiges Bier getrunken habe.
Danach hatte ich ein Jahr lang keinen einzigen Trinkimpuls mehr. Nicht einmal einen kleinen. Alkohol hat in meinem Leben einfach nicht mehr stattgefunden.
Bis zu jenem Abend, an dem ich aufgrund meiner beruflichen Situation extrem erschöpft und psychisch ziemlich auf Rille lief. Der Lebenskomplize schlug vor, die Küche kalt zu lassen und gemeinsam in unser vietnamesisches Lieblingsrestaurant zu gehen, um eine Pho für die Seele zu bestellen.
Ich war müde an diesem Tag, ich war genervt, die sozialen Akkus waren leer, ich hatte schon viel zu lange keine Pause mehr gemacht und die To-Do-Liste war trotzdem endlos. Und ich saß da im Restaurant und hörte zwischen meinen Ohren den Gedanken: „Scheiß drauf, ich trinke heute ein Bier, das habe ich mir verdient!“
Nothing that happens today requires a drink.
Der Trinkimpuls in diesem Moment war das alte, aber völlig hohle Versprechen, dass Alkoholkonsum eine Form der Selbstfürsorge sei. Dass ein leichter Alkoholrausch entspannt und Stress abbaut und dass ich mich für all den Hustle jetzt mit einem „schönen“ Bier belohnen darf.
Weil ich damals nie darüber nachgedacht habe, dass Alkohol eben keine Selbstfürsorge ist, sondern im Gegenteil Körper und Seele noch mehr unter Stress setzt. Weil ich dieser Werbelüge, ein Gift als Belohnung zu verkaufen, völlig erlegen war. Weil ich mir nicht die Zeit genommen hatte, mich selbst in dieser Situation zu beobachten.
Ich habe diesen Impuls zugelassen und ausgehalten. Es war okay, dass er da war, ich wusste, dass er vorbeigehen würde. Ich wusste, wenn ich jetzt ein Bier trinken würde, würde es nicht bei einem Bier bleiben. Und ich wusste, dass ich auf kein Getränk so leicht verzichten konnte wie auf das erste. All diese Dinge hatte ich über mich gelernt. Ich schaute dem hässlichen, bockigen kleinen Kind mit den vielen Namen in die Augen, bis es sich beruhigt hatte. Und dann bestellte ich mir statt eines Bieres die geilste Gurken-Limetten-Minze-Limo der Welt.
Das war mein erster und bisher einziger Trinkimpuls seit über einem Jahr. Früher hatte ich diese Impulse mehrmals pro Woche. Mindestens genauso oft habe ich ihnen nachgegeben. Ich bin erstaunt, dass sie jetzt völlig verschwunden sind und ich wirklich kein Bedürfnis mehr nach der Wirkung und dem Geschmack von Alkohol habe. Dieser Intervall wird noch länger und leichter als der davor.
Meine Trinkimpulse sind nicht von heute auf morgen verschwunden. Es war ein langer Weg, es war viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt. Trotz und wegen aller Rückschläge.
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Disclaimer: Alle Tipps und Ratschläge, die ich hier gebe, basieren auf meiner persönlichen Erfahrung. Für jede*n funktioniert etwas anderes. Alkoholprobleme sind so vielfältig wie die Alkoholangebote in Supermärkten. Falls du auf dem Weg in ein alkohlfreies Leben bist, finde heraus, was für dich passt, dir leicht fällt und dich auf den richtigen Weg bringt.