Über Tiefpunkte und das Ganz-unten-ankommen
„Wieso trinkst du denn wirklich gar nichts mehr?“
„Du hättest doch nicht gleich ganz aufhören müssen.“
„Ist ja schon ein bisschen fanatisch, was du da machst.“
„Aber du warst/bist doch kein*e Alkoholiker*in!“
Diese Sätze habe ich schon einige Male gehört, seit ich nicht mehr trinke. Auch kürzlich um den Jahreswechsel herum, als es um das berühmte Glas Sekt an Silvester ging:
„Nicht mal so um Mitternacht, zum Anstoßen?“
Nein. Und ich habe mich wirklich gefragt, warum so viele Menschen so besessen von diesem Sekt an Silvester sind. Aber das ist ein anderes Thema. Denn ich möchte mich mit der Frage beschäftigen, warum ich dem Alkohol mittlerweile so komplett und endgültig den Rücken gekehrt habe – und wirklich keine einzige Ausnahme mehr mache.
Denn es ist wahr: Mein Trinkverhalten war nicht akut lebensbedrohlich. Ich war nicht an diesem dunklen Ort, den man gemeinhin als ganz unten bezeichnet. Dem Bild, das die meisten Menschen im Kopf haben, wenn sie das Wort Alkoholiker*in hören, entsprach ich nie: Verwahrlost, ständig betrunken, arbeitslos, ständig lallend, die Flasche schon morgens in den zitternden Händen und am gierigen Hals.
Das Trinken hat mein Leben auch nicht aus der Bahn geworfen, ganz im Gegenteil. Es hielt mich im Gleichgewicht, es hielt die Dinge im Lot, es war eine verlässliche Konstante, die beruhigende und schlillernde Komponente im alltäglich grauen Wahnsinn. Der Alkohol war mein Ausgleich, meine Belohnung für einen anstrengenden Tag, für eine stressige Woche, der Darf-Schein, um zwischen all der Langeweile mal ein bisschen auszuflippen. Alkohol war mein kleiner gesellschaftlich anerkannter Helfer, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Ich hatte gute Laune beim Trinken, ich hatte Lieblingsbiere, Lieblingsweine, einen teuren Lieblingsgin. Ich war kein wahlloser Säufer.
Ich trank auch selten exzessiv. Drogen habe ich nie genommen. Selbst zum Kiffen war ich immer zu feige. Die Filmrisse, die ich wegen Alkohol in meinem Leben hatte, kann man an wenigen Fingern abzählen und sie lehrten mich schon früh das, was ich mir selbst jahrzehntelang als maßvollen und bewussten Alkoholkonsum verkaufte. Ich habe nie heimlich getrunken, nie körperliche Abhängigkeitssymptome gezeigt. Ich habe unter Alkoholeinfluss zwar sehr peinliche und sehr unangenehme Dinge getan, aber nie völlig waghalsige oder (selbst)zerstörerische. Ich habe es immer geschafft, mehrere Tage, manchmal Wochen am Stück nicht zu trinken.
Warum habe ich also trotzdem komplett aufgehört zu trinken? Warum bin ich so „fanatisch“ und mache keine Ausnahme, obwohl ich es doch nicht müsste? Wo ich doch nie ganz unten war, dort im dunklen Dreck, bei all den Alkoholiker*innen, auf die wir in unserer Gesellschaft immer so verächtlich herabschauen?
Viele erwarten an dieser Stelle eine dramatische Geschichte, die meine Entscheidung begründet, eine Erleuchtung, die mich plötzlich überkam, eine spektakuläre Erkenntnis, einen Tiefpunkt.
Aber ich glaube nicht an den einen großen Moment, der alles verändert, wenn es um Suchtverhalten geht. Es ist vielmehr ein kontinuierliches Abtragen von Mustern und Überzeugungen, ein Tröpfeln und Verstehen.
Daniel Schreiber schreibt in seinem Buch „Nüchtern“:
„In der Öffentlichkeit gibt es die Vorstellung, dass man einen bestimmten Tiefpunkt durchgemacht haben muss, um mit dem Trinken aufhören zu können. (…) Aus der Außenperspektive ist es für die meisten Menschen nur schwer nachzuvollziehen, dass sich der innere Tiefpunkt nicht bloß über Wochen, Monate und Jahre erstrecken kann, sondern dass er irgendwann einfach zu einer Realität wird, zum Leben selbst.“
Mein Körper hat das schnell begriffen. Er wehrte sich stets mit allem was er hatte, wenn ich ihm Alkohol zumutete. Ich bekam Kopfschmerzen und kalte Schweißausbrüche. Ich zitterte. Mir war übel und oft musste ich mich oft am nächsten Morgen übergeben, weil mein Alkohol meinen Magen komplett bockig machte und er einfach nichts bei sich behalten mochte. Manchmal hatte ich nach dem Trinken tagelang Verdauungsprobleme. Und in meinem Gehirn brach der durch die Depression ohnehin instabile Serotoninhaushalt völlig zusammen, die depressiven Schübe waren oft nur durch stundenlanges Schlafen zu bewältigen.
Und ich wusste, dass all die sinnlosen Trinkregeln, die ich mir selbst auferlegte, um meinen Alkoholkonsum zu regulieren, nie funktionieren würden. Aber ich war wahnsinnig gut darin, zu ignorieren, dass viele meiner gesundheitlichen und psychischen Probleme mit dem Alkohol zu tun hatten. Und ich mochte mich lange Zeit nicht wirklich damit auseinandersetzen, warum Alkohol für mich so sehr zu einem Erwachsenenleben gehörte, dass ich mir ein Leben ohne Alkohol nicht vorstellen konnte. Ich hielt mein Trinkverhalten für völlig normal. Und wenn man das durchschnittliche Trinkverhalten in unserer alkoholbesessenen Gesellschaft mit meinem damals vergleicht, war es das vielleicht auch.
Kaum ein Arzt oder eine Ärztin hätte bei mir wirklich ein Alkoholproblem diagnostiziert.
Also musste ich es selbst tun.
Denn ich hatte eines. Das zu verstehen, war mein Tiefpunkt.
Der Prozess, der stattfinden muss, um sich mit dem, was wir in unserer Gesellschaft als Alkoholproblem bezeichnen, auseinanderzusetzen, ist mit extrem vielen Widerhaken besetzt. Jeder Mensch, der in Bezug auf seinen Alkoholkonsum ehrlich mit sich selbst sein will, muss in einen ziemlich hässlichen Abgrund blicken.
Mein Tiefpunkt war die Erkenntnis, dass ich mich nach dem Trinken immer schlecht fühle, egal wie viel oder wie wenig ich trinke und egal mit welchen Methoden ich versuche, meinen Alkoholkonsum zu kontrollieren.
Mein Tiefpunkt war die Gewissheit, dass ich nicht mehr mit dem Trinken aufhören kann, wenn ich einmal damit angefangen habe. Dass ich auf keinen Drink mehr verzichten kann, wenn ich nicht schon den ersten rigoros ablehne.
Und mein Tiefpunkt war die schonungslose Wahrheit, dass der Alkohol in meinem Freundeskreis und in meinem familiären Umfeld eine widerliche, hässliche und gewalttätige Spur der Verwüstung hinterlassen hat. Der Alkohol hat geprügelt, geschrien, Türen zugeschlagen, beleidigt, an den Haaren gezogen, belästigt, verletzt, vergewaltigt, geschlagen, verwundet und getötet.
Mein Tiefpunkt war die Einsicht: Ich will diese Spur nicht weiterführen.
Das alles war für mich Tiefpunkt genug. Ich wollte nicht noch weiter runter.
An diesem Tiefpunkt angekommen, begann ich damit, Alkohol für mich komplett zu dekontruieren und zu entzaubern. Ich konnte schließlich gar nicht anders als einzusehen, dass dem Alkohol nichts, aber auch gar nichts Schönes oder Romantisches anhaftet. Dass das ganze Gerede von Kulturgut und Genuss Feigenblätter sind, mit denen wir als Gesellschaft unser kollektives Bedürfnis nach Suff und Rausch kaschieren. Ich begann, die Manipulation zu durchschauen, die seit Jahrzehnten von der Alkoholindustrie ausging und verstand die feministische Selbstermächtigung, die mit der Nüchternheit einherging. Ich verstand, dass Nüchternheit mein Leben (und das Leben anderer) so viel reicher macht. Ich erlebte Nüchternheit nicht als Verzicht oder als etwas, das ich diszipliniert „durchhalten“ musste.
Ich erlebe meine Nüchternheit als wertvolles Geschenk. Ich erlebe sie mit Leichtigkeit und empfinde sie mehr als Genuss als ich es beim Alkohol jemals konnte.
Ich wüsste nicht, warum ich mir diese Freude, diesen Genuss wieder zerstören, warum ich dieses Geschenk wieder wegwerfen sollte.
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Disclaimer: Alle Tipps und Ratschläge, die ich hier gebe, basieren auf meiner persönlichen Erfahrung. Für jede*n funktioniert etwas anderes. Alkoholprobleme sind so vielfältig wie die Alkoholangebote in Supermärkten. Falls du auf dem Weg in ein alkohlfreies Leben bist, finde heraus, was für dich passt, dir leicht fällt und dich auf den richtigen Weg bringt.
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Ein Link in diesem Beitrag führt zum Webshop meiner Lieblingsbuchhandlung Cohen & Dobernigg. Ich bekomme von niemandem Geld für diese Verlinkung. Ich verlinke dorthin, weil ich die dahinterstehenden Menschen bzw. ihre Arbeit sehr schätze und gern weiterempfehle und unterstütze.