Tell me why: Warum ich getrunken habe
Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich so viele Jahre getrunken habe. Denn eigentlich war mir Alkohol immer zuwider. Betrunkene, die lallen und torkeln, fand ich immer extrem abstoßend und beängstigend. Ich ekelte mich immer vor dem Geruch des Alkohols, vor Menschen, die ihre Grenzen nicht kannten. Und selbst als ich meine rebellische Jugend in den 90er Jahren in der Vorstadt-Punkszene verbrachte, hatte ich nie wirklich Lust, mit verstrahlten Zauseliros abzuhängen und grölend Dosenbier anzustechen. Viele alkoholische Getränke mochte ich nie wirklich, und selbst die, die ich mochte, schmeckten mir nicht so gut wie eine eiskalte Cola an einem Sommertag oder ein guter Dreiminuten-Earl Grey zum Frühstück.
Trotzdem habe ich getrunken. Aber warum?
Diese Frage nagte wie ein Zombiehamster immer wieder an mir. Sie schlug ihre Zähne in mich hinein, wenn ich morgens mit Kopfschmerzen aufwachte und als erstes nachsah, ob meine Wertsachen noch in meiner Tasche waren. Wenn ich mich an die Dinge erinnerte, die ich am Vorabend unter Alkoholeinfluss gesagt oder getan hatte. Und wenn ich beschämt feststellte, dass ich mich wieder einmal nicht an eine meiner zahlreichen, aber leider völlig wirkungslosen Trinkregeln („Heute nur zwei Bier, okay, vielleicht drei, aber dann ist wirklich Schluss!“) gehalten hatte.
Meistens waren diese Szenarien mit einem üblen Kater verbunden, der manchmal mehrere Tage anhielt. Denn schon nach kleinen Mengen Alkohol fühlte ich mich immer sehr, sehr schlecht. Und es gab diese peinlichen Situationen, in denen ich mir am Anfang fest vorgenommen hatte, nüchtern zu bleiben, keinen Alkohol zu trinken, heute nicht, ganz bestimmt nicht. Nein, kein einziges Bier. Nach kurzer Zeit bin ich dann doch eingeknickt.
Warum habe ich mich immer wieder zu etwas hinreißen lassen, was ich eigentlich gar nicht wollte?
Ich bin kein willensschwacher Mensch. Ich weiß genau, was ich will. Es fällt mir selten schwer, konzentriert und zielorientiert an Dingen zu arbeiten, die mir wichtig sind. Ich spüre schnell, wenn mir etwas nicht gefällt und kann (mittlerweile) sehr gut Grenzen setzen und diese auch klar kommunizieren.
Trotzdem packte mich der Alkohol immer wieder am Kragen und zerrte mich in seine stinkende, dunkle Höhle. Mal mit Bier vom Fass, mal mit Grünem Veltliner, mal mit Tequila, mal mit Gin Tonic. Mein Freund Alkohol liebte die Abwechslung. Er kam in vielen Formen, Farben und Geschmacksrichtungen daher. Aber eines war immer gleich: der Rausch.
Und ja, ich liebte diesen Rausch. Ich liebte ihn sehr. Nein, ich meine nicht den Filmriss, nicht die totale Vernebelung, nicht die abgeklemmte Batterie. Ich glaube, das liebt niemand wirklich. Ich meine diesen leichten Glimmer, der sich bei mir nach ein, zwei Gläsern einstellte, der das Serotonin in großen Wellen durch meine Systeme pumpte, der alles entspannt, leicht und lustig erscheinen ließ. Ich wollte diesen Rausch, er war so schön, so flauschig und angenehm und wenn er erst einmal da war, wollte ich, dass er blieb, den ganzen Abend, die ganze Nacht, und es war mir plötzlich egal, welchen Preis ich dafür zahlen musste. Denn dieser Rausch machte so vieles leichter, was mir im nüchternen Zustand so schwer fiel.
Ich bin das, was man salopp als socially awkward und weniger salopp als neurodivergent bezeichnet:
Ich ticke in vielen Bereichen des Lebens etwas anders bis komisch. Fremde Menschen und soziale Interaktionen sind für mich oft sehr anstrengend. Ich brauche Zeit, um mich in der Gegenwart anderer sicher zu fühlen, um mich zu entspannen und aufzutauen. Ich habe keine Ahnung, wie man Smalltalk führt oder wie man einfach so mit Leuten ins Gespräch kommt. Ich kann tagelang ohne soziale Kontakte im Home Office auskommen. Das bedrückende Gefühl der Einsamkeit erlebe ich selten bis nie. Ich brauche viel Zeit für mich.
Das war schon in meiner Kindheit so: Am liebsten war ich ganz für mich allein. Die Aufforderung „Spiel doch mal mit den anderen Kindern!“ beantwortete ich meist mit vorgeschobener Unterlippe und Kopfschütteln. Es fiel mir schwer, mit anderen mehr Spaß zu haben als mit mir allein. Ich beschäftigte mich gern stundenlang in meinem Zimmer. Ich zeichnete, malte, bastelte. Hörte meine Kassetten mit den Hallo Spencer-Folgen, bis ich sie auswendig konnte. Dachte mir Sachen aus. Blätterte in Zeitschriften und Versandhauskatalogen. „Schüchtern“ und „ruhig“ waren Adjektive, mit denen ich oft beschrieben wurde. Es gab nur wenige Kinder, mit denen ich mich wirklich wohl fühlte. Klassenfahrten waren für mich der Horror: Ständige Interaktion mit anderen, durchgeplante Tage, ungewohnte Umgebung. Dinge, die andere Kinder lustig und aufregend fanden, empfand ich oft als extrem anstrengend, fordernd und kräftezehrend.
In meiner Auseinandersetzung mit Alkohol(konsum) in den letzten Jahren bin ich auf die These gestoßen, dass unsere emotionale Entwicklung oft an dem Punkt zum Stillstand kommt, an dem wir zum ersten Mal Alkohol benutzen/missbrauchen, um ein unangenehmes Gefühl zu bewältigen.
Vielleicht war das bei mir auch so. Denn irgendwann war ich kein Kind mehr.
Und dann war da der Alkohol. Und seine Wirkung. Der Rausch.
Der Rausch hat mich gesellig gemacht. Auch wenn ich die Leute, mit denen ich zusammen war, gar nicht kannte. Hoch die Tassen. Der Rausch machte mich locker, auch wenn ich gerade gar keine Lust und Kraft für soziale Interaktionen hatte. Ich fand Freunde beim Trinken. Oder das, was ich für Freunde hielt. Ein alkoholisches Getränk in der Hand gab mir das sichere Gefühl, erwachsen und reif zu sein. Es gab mir eine Lockerheit im Umgang mit anderen, die ich nüchtern nie gehabt hätte. Der Alkohol schaltete meinen Perfektionismus aus, der mich blockierte. Diese oft so anstrengenden Situationen fielen mir plötzlich so viel leichter. Ich konnte stundenlang mit Leuten quatschen, über jeden Scheiß, egal, der Alkohol lockerte meine Zunge und meine Nerven, eins geht noch, so jung kommt man nicht mehr zusammen, Prost!
Die Tatsache, dass Alkohol in fast allen gesellschaftlichen Kontexten absolut toleriert, ja sogar erwünscht ist, hat mir die Sache erstaunlich leicht gemacht. Trinken geht immer und überall, wo Menschen zusammenkommen. Beruflich oder privat. Auf einer lustigen Party oder bei einer Beerdigung. Alkohol war ein sozialer Klebstoff, der mich mit anderen verband. It’s always wine o’clock somewhere und so.
Und ich hatte nie ein Problem damit, dass andere sehen, dass ich Alkohol trinke. Ich habe meinen Alkoholkonsum nie versteckt. Warum hätte ich das auch tun sollen? Wenn ich heute ehrlich zu mir selbst bin (und man wird sehr ehrlich zu sich selbst, wenn man mit dem Trinken aufhört), dann habe ich sowieso die meiste Zeit für die anderen getrunken oder für das Bild, das die anderen von mir hatten: Locker, gesellig, entspannt, auch und gerade im Umgang mit Alkohol. Die Bierflasche in der Hand signalisierte: Ich bin wie ihr, ganz normal, mit mir kann man Spaß haben. Und die nächste Runde geht auf mich.
Was ich am nächsten Tag spürte, war nicht nur ein körperlicher Kater. Sondern auch ein psychischer. Mein Kopf dröhnte nicht nur wegen der Dehydrierung, des Acetaldehyds und des Glukosemangels, sondern auch, weil ich mich psychisch völlig überanstrengt hatte. Ich hasste den Alkohol in diesen Momenten, weil er mich immer einen so hohen Preis zahlen ließ. Weil er mich Dinge tun ließ, die nicht gut für mich waren. Weil er mich immer wieder in Situationen brachte, die mich zu viel Kraft kosteten. Aber ich hasste mich auch selbst, weil ich einfach nicht in der Lage war, diese Situationen anders zu ertragen. Und dann doch immer wieder zum Alkohol griff.
Und heute?
Heute trinke ich nicht mehr. Ich habe Alkohl in einem langen Selbstbeobachtungsprozess für mich komplett dekonstruiert und entzaubert. Ich nehme jetzt Rücksicht auf mich selbst und akzeptiere, dass es Situationen gibt, in denen ich anders funktioniere als andere Menschen. Ich tue Dinge, die mir helfen, meine Akkus aufzuladen – auch wenn es Tätigkeiten sind, die andere als eigenbrötlerisch bezeichnen würden. Ich lese. Ich schreibe. Ich habe mich wieder in die Kampfkunst verliebt und letztes Jahr erfolgreich meine Prüfung zum ersten Dan im Kadgamala Karate abgelegt. Ich lerne Griechisch. Ich verbringe meine Zeit mit Menschen, die ebenfalls alkoholfrei leben und/oder vor denen ich mich nicht lockertrinken muss. Ich meide Gruppensituationen mit Menschen, die mich überfordern könnten. Und ja, ich habe manche Leute nicht mehr gesehen, seit ich alkoholfrei lebe. Vielleicht ist das okay so. Vielleicht treffe ich sie aber auch irgendwann wieder und habe das Vergnügen, mit ihnen zum ersten Mal ein nüchternes Gespräch zu führen. Ganz entspannt. Bei einem Kaffee. Der geht dann auch auf mich.