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Viele Bewohner*innen auf Sankt Pauli nennen die Harley Days abschätzig „Zahnarztkongress“ – weil sie den Jungs auf den schweren Maschinen eine gewisse Karnevalsattitüde unterstellen. In ihren Augen führen sie ein trauriges Dasein als Teilzeitrockerrebellen, bei denen es einen lautstarken Verbrennermotor und eine Lederjackenverkleidung benötigt, um mal ab und zu abseits des Praxis-Alltags so richtig gutsituiert auf die nicht vegetarische Wurst zu hauen.
Ich finde das despektierlich. Weil ich meinen Zahnarzt sehr mag. Mein Zahnarzt ist rücksichtsvoll, feinfühlig und ruhig. Er hat sehr weiche und vorsichtige Hände. All diese Attribute suche ich jedoch bei den Teilnehmern der Harley Days vergeblich – das Wort Teilnehmer ist an dieser Stelle bewusst nicht mit einem Sternchen gegendert. Ich gebe aber zu, dass ich das mit den weichen Händen nicht so genau untersucht habe. Mut zur Lücke an dieser Stelle.
Es gibt Wochenenden, an denen ich meine Wohnung auf St.Pauli lieber verlasse. Das Wochenende mit den Harley Days gehört in der Regel dazu. In diesem Jahr ist es meiner Trantütigkeit und dem recht frühen Veranstaltungstermin im Mai geschuldet, dass ich mich nicht rechtzeitig um die Planung meiner Fluchtmöglichkeit bemüht habe. Kurz gesagt: Ich hab’s verpennt.
Vor mir liegt also ein Wochenende, an dem mehrere tausend verchromte Blechhaufen lautstark und im Sekundentakt an den Fenstern meiner Wohnung vorbeifahren werden. Sie werden im Leerlauf an der Ampel am Gasgriff drehen, sie werden ihre Motoren blubbern lassen. Freiheit ist ein voller Tank, get your motor running. Nun ja, schreibt da der Manfred aus Gründau (14.653 Einwohner im Kreis Main-Kinzig) bei Facebook in die Kommentarspalte, so einmal im Jahr kann man das ja wohl tolerieren.
Da muss ich Manfred jedoch eines Besseren belehren. Zum einen bin ich ziemlich müde, wenn mir Leute – die niemals auf dem Kiez gelebt haben – erzählen, was und wieviel ich hier denn so tolerieren muss. Diese Menschen sehen im Rahmen ihrer Wochenendfeiereien oft nur einen winzigen Ausschnitt von dem, was hier auf St.Pauli in aller Regelmäßigkeit passiert.
Menschen, die hier wohnen, tolerieren nahezu jedes Wochenende eine andere Großveranstaltung. Sie tolerieren damit verbunden Stau und Verkehrschaos, weil Menschen nicht in der Lage sind, den ÖPNV zu nutzen. Sie tolerieren Müll, Gegröhle und Erbrochenes, direkt vor ihrer Haustür. Verursacht von denen, die meinen, dass ihre Anwesenheit auf dem Kiez ein Freibrief für eine komplette Scheißegalhaltung wäre. Sie tolerieren ständige und unverhältnismäßige Polizeieinsätze, Kriminalität und eine komplett verkorkste Sozial- und Obdachlosenpolitik, die dafür sorgt, dass auf diesen Straßen, auf denen andere so lustig feiern, immer wieder Menschen in Armut verwahrlosen und sterben. In der Zwischenzeit ärgert sich Manfred zu Hause in Gründau darüber, wenn am Sonntag jemand in der Mittagszeit Rasen mäht.
Zum anderen ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen hierher kommen und eine gute Zeit haben. Dafür ist St.Pauli ja auch da und es ist schön, wenn Menschen feiern, sich begegnen und Spaß haben.
Wenn deine Vorstellung von Spaß allerdings daraus besteht, anderen Menschen mit einem stinkenden und lärmenden Stück Blech auf die Nüsse zu gehen und du deinem völlig verstrahlten Freiheitsbegriff mit einer flatternden Konföderiertenflagge und durchdrehenden Reifen Ausdruck verleihen musst, solltest du aufhören, am Auspuff zu schnüffeln und sowohl deine Definition von Freiheit als auch deine Definition von Spaß nochmal komplett überdenken.
Auf Manfreds Argument, dass ein Harley Days-Wochenende dem Klima weniger schadet als das tägliche Schnitzel, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Manfred liefert keine empirische Studien über den Vergleich des CO2-Ausstoßes und kann auch keine verlässlichen Zahlen vorlegen, die über die vegane Lebensweise von lederjackentragenden Rocker-Dudes auf lärmenden Blechkisten Aufschluss geben. Generell denke ich, dass Menschen, die täglich ein Schnitzel essen, noch ganz andere Probleme haben.
Ich gebe zu, dass ich nicht viel anfangen kann mit dieser ganzen dahergemackerten Sons of Anarchy-Attitüde, mit schlechten Coverversionen von „Sweet Home Alabama“, mit Nackensteaks vom Kohle-Schwenkgrill, mariniert in hochoktanigem Super-Plus und mit vollbärtigen Typen, die Kopftücher tragen. Ich muss damit auch gar nichts anfangen können. Jedem Tierchen ein Pläsierchen. Macht euer Ding, lasst mich in Ruhe.
Doch genau das mit der Ruhe ist ja das Problem.
Denn da ist diese grenzenlose Rücksichtslosigkeit und der überhebliche Hedonismus, mit dem nun am Wochenende hier ein paar tausend Männer lieber auf lautstark knatternden Blechhobeln ihren persönlichen Urknall ausleben werden anstatt einfach mal zur Therapie zu gehen und über ihre Gefühle zu reden. Nun ja.
Über das Viertel legt sich sich in der Zwischenzeit öliger Abgasgeruch, vibrierendes Motorengedröhne verwebt sich zu einem ständigen nervenzermürbenden Klangteppich. Ich schließe alle Fenster, trotz frühlingshafter Temperaturen. Und beschließe, einfach spontan an die Ostsee zu fahren. Oder nach Gründau, zu Manfred. Da brülle ich dann ein bisschen vor seiner Haustür herum, weil es mir Spaß macht. Einmal im Jahr kann er das sicherlich tolerieren.
Disclaimer:
Dieses wunderprächtige Graffito vom Titelbild dieses Beitrags stammt übrigens aus der Sprühdose des St.Paulianer Künstlers Rebelzer und ist am Spielbudenplatz zu finden.