Autorinnentipp: Eva Biringer
Als ich vor etwas mehr als zwei Jahren „Unabhängig“ von Eva Biringer gelesen habe, hat mir dieses Buch wichtige Impulse gegeben, um meinen Blick auf Alkohol komplett zu verändern. Dass ich schließlich mit dem Trinken aufgehört habe und heute mehr als froh bin, keinen Tropfen mehr anrühren zu müssen, hat viel mit den Schaltern zu tun, die Eva Biringer mit ihrem feministischen Blick auf das Thema Alkoholkonsum bei mir umgelegt hat.
Als ich erfuhr, dass sie noch in diesem Herbst ihr zweites Buch veröffentlichen wird, war für mich sofort klar: Das ist ein Must-Read! Dank Vorablesen hat ein Rezensionsexemplar von „Unversehrt“ sogar schon vor dem Erscheinungstermin den Weg in meine Leseecke gefunden. Und obwohl es schon eine Weile her ist, dass ich Biringers erstes Buch gelesen habe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, es zusammen mit ihrer Neuerscheinung hier vorzustellen.
Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen
In unserer Gesellschaft ist es ein langer Weg, bis ein Alkoholproblem diagnostiziert wird, denn wenn das Wort „Alkoholiker“ fällt, haben die meisten Menschen ein ziemlich klares Bild vor Augen. Meist ist es ein Mann, der in heruntergerockter Kleidung auf der Straße sitzt und gierig billigen Fusel in sich hineinschüttet. Oder jemand, der schon morgens nach dem Aufstehen trinken muss, um das Zittern in den Griff zu bekommen. In einer verwahrlosten Wohnung. Ungepflegt. Arbeitslos. Was auch immer. Wir haben sehr klischeebeladene Vorstellungen von diesem „ganz unten ankommen“, von Alkoholsucht, von einem Leben als Alkoholiker*in.
Kaum jemand käme auf die Idee, einer gebildeten, gut situierten Frau, die sich in einem teuren Restaurant edlen Wein nachschenkt, ein ungesundes Trinkverhalten oder gar ein Alkoholproblem zu unterstellen. Doch Eva Biringer war genau diese Frau.
Als Food & Travel-Journalistin besucht sie Winzer, Gourmetrestaurants, Weinverkostungen und Genussreisen. Alkohol ist ein ständiger Begleiter in ihrem Leben, auch beruflich: Alkohol zum Runterkommen, zum Entspannen, als Genuss, als Belohnung, weil er dazugehört, weil er immer schon da war. Doch immer öfter kommt es zu Alkoholexzessen, zum Rauschtrinken und zu Abstürzen, bei denen Biringer kein Ende findet, sich leichtfertig in gefährliche Situationen begibt und am nächsten Morgen ohne Erinnerung aufwacht.
„Unabhängig“ ist ein autobiografisches Sachbuch, das einen weiblichen, feministischen und sehr persönlichen Blick auf Alkoholkonsum und Trinkimpulse wirft. Am Beispiel ihres eigenen Trinkverhaltens macht Eva Biringer deutlich, warum heute so viele Frauen lieber zur Flasche greifen und wie die Betäubung durch den Alkoholrausch sie daran hindert, ausbeuterische und patriarchale Missstände zu erkennen und anzuprangern.
Es ist noch gar nicht so lange her, da war Alkoholkonsum eine echte Männerdomäne: Schnaps, Bier, laut rülpsen – all das war so gar nicht ladylike. Als Frau zu trinken – oder gar betrunken zu sein – schickte sich nicht. Biringer beschreibt die Strategien, die die Alkoholindustrie entwickelte, um ihre Produkte auch an die weibliche Zielgruppe zu verkaufen. Alkohol wurde zu einem vermeintlichen Treibstoff für Emanzipazion. Der Suff wurde zur Selbstmedikation wenn der Gender-Care-Gap mal wieder zu viel für die Mutti wurde.
In 13 Kapiteln dekonstruiert Biringer den romantischen Nimbus, mit dem die Themen Rausch und Alkohol aufgeladen sind – mal mit sehr sensiblen und mal mit sehr rustikalen Worten. Sie liefert klare Fakten und geht hart und ehrlich mit sich und ihrer eigenen Saufkarriere ins Gericht. Sie analysiert die unterschiedlichen Motive, die Frauen zum Trinken bewegen und wie die allgemeine Akzeptanz des Alkoholkonsums sie immer wieder daran hindert, ganz damit aufzuhören.
„Unabhängig“ hat mir und meinem eigenen Trinkverhalten auf äußerst erhellende Weise einen Spiegel vorgehalten. Nach dem Lesen dieses Buches habe ich mich entschlossen, bedingungslos in diesen Spiegel zu schauen. So lange, bis ich endgültig mit dem Trinken aufhören konnte. Und mich nicht mehr vor mir selbst schämen musste.
Hier geht es noch zu einem kleinen Interview mit der Autorin zu ihrem Buch.
Und hier findet ihr das Hörbuch auf Spotify, gelesen von Eva Biringer selbst.
Unversehrt – Frauen und Schmerz
Wie schon in „Unabhängig“ nähert sich Eva Biringer auch in ihrem zweiten Buch „Unversehrt“ einem Thema aus weiblicher bzw. feministischer Sicht. Diesmal geht es um seelischen und körperlichen Schmerz.
Es geht um viel zu lange übersehene und totgeschwiegene Themen wie schmerzhafte Perioden, um Geburtsschmerzen, um häusliche und misogyne Gewalt, um Schönheitsoperationen, Selbstoptimierung und Essstörungen, um zwickende Shapewear, um schmerzhaften Sex, um Empfängnisverhütung, um Klitorisbeschneidung, anerzogenen Selbsthass, dysfunktionale Verhaltensweisen und den selbstzerstörerischen Zwang vieler Frauen, die eigenen Bedürfnisse ständig hinter die der anderen zu stellen. Ja, das ist eine ganze Menge (und ich habe bei weitem nicht alle Themen aufgezählt, die in diesem Buch behandelt werden). Aber – unglaublich, aber wahr! – den meisten Frauen oder weiblich gelesenen Menschen wird vieles davon schmerzlich bekannt vorkommen.
Frauen neigen dazu, ihren Schmerz still zu ertragen oder zu betäuben, nicht weil sie besonders hart sein wollen, sondern weil sie resigniert haben und die Umstände in ihren Augen ohnehin nicht zu ändern sind. Ihr Schmerz wird in unserer Gesellschaft abgewertet, bagatellisiert und sexualisiert. Männliche Körper gelten in Medizin und Forschung als Norm: Zahlreiche medizinische Studien wurden und werden ohne eine einzige weibliche Teilnehmerin durchgeführt. Wenn sich eine Frau wegen Schmerzen in ärztliche Behandlung begibt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Beschwerden aufgrund mangelnder medizinischer Diagnostik und Forschung verharmlost oder falsch behandelt werden.
Eva Biringer arbeitet auch in diesem Buch autobiografisch. Sie streut viele persönliche Erlebnisse und Anekdoten ein, liefert aber auch immer wieder wissenschaftliche, kulturelle und historische Hintergründe. Sprachlich gekonnt und unterhaltsam, immer den richtigen Ton treffend.
Im letzten von insgesamt neun Kapiteln „Reclaim the Pain“ geht es um Ansätze und Methoden, mit Schmerz umzugehen und ihn in etwas Emanzipiertes und Kraftvolles zu verwandeln. Biringer erläutert, wie und warum Selbstakzeptanz und Selbstliebe als Kampfansage gegen schmerzhafte patriarchale Strukturen eingesetzt werden und funktionieren können und wie Feminist*innen der Abwertung weiblicher Bedürfnisse entgegentreten können.
„Unversehrt“ ist kein medizinisches Fachbuch und es erhebt auch nicht diesen Anspruch. Es ist ein feministischer Blick auf u.a. medizinische, aber auch gesellschaftliche und strukturelle Themen. Man kann dem Buch vorwerfen, dass das alles fast ausschließlich mit einem cis weiblichen Blick betrachtet wird, teilweise hätte ich mir noch ein bisschen mehr genderqueere Perspektive auf die Dinge gewünscht. Das ist aber auch der einzige kleine Kritikpunkt an diesem wichtigen Buch.
Hier findet ihr das Hörbuch auf Spotify, gelesen von Eva Biringer selbst.
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Die Links in diesem Beitrag führen zum Webshop meiner Lieblingsbuchhandlung Cohen & Dobernigg. Ich bekomme von niemandem Geld für diese Verlinkung. Ich verlinke sie einzig und allein, weil ich die dahinterstehenden Menschen bzw. ihre Arbeit sehr schätze und gern weiterempfehle und unterstütze.
Außerdem enthält dieser Beitrag einen Link zu VORABLESEN (einem Angebot der Ullstein Buchverlage GmbH), die mir das Buch „Unversehrt“ als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben.
Die Links zum Autorinneninterview und den Hörbüchern führen zu YouTube bzw. Spotify.